«Chance Kirchenberufe»: Berufswerbung trotz Ungewissheit
Dominik Thali
Corona macht viele Leute arbeitslos. Steigt deshalb das Interesse an einem Kirchenberuf?
Thomas Leist: Nein. Anfänglich sagten aber Leute, sie hätten während des Lockdowns Zeit gefunden, sich zu fragen, ob ihre jetzige Tätigkeit für sie noch stimme. Ich hatte vergangenes Jahr rund 100 Beratungen, das sind nur leicht mehr als im Vorjahr. Die Mehrheit betraf zudem nicht seelsorgliche Berufe. Also zum Beispiel Sakristan/Sakristanin, das Pfarreisekretariat oder Haushälterin.
Die frühere «Informationsstelle Kirchliche Berufe» tritt seit 2013 als «Chance Kirchenberufe» auf. Hat sich dies auf die Nachfrage ausgewirkt?
Ja. Sie ist gewachsen und gleichzeitig unspezifischer geworden. Es kommt also durchaus vor, dass jemand erst im Beratungsgespräch fragt, ob er für diesen oder jenen Beruf erst in die Kirche eintreten müsse. Man wolle «etwas in Seelsorge» machen, höre ich dann, aber mein Gegenüber hat keine Ahnung davon geschweige denn eine pfarreiliche Bindung.
War das vorher anders?
Wir hatten weniger Anfragen, aber die Ratsuchenden waren schon einen Schritt weiter, weil sie meist über eine Mitarbeiterin, einen Mitarbeiter einer Pfarrei vermittelt worden waren.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Es ist eigentlich erschreckend, wie selten Personen sagen, mein Pfarrer oder meine Gemeindeleiterin hat mich auf die Idee gebracht, mich bei «Chance Kirchenberufe» zu melden. Das kommt wirklich selten vor, vergangenes Jahr waren es nur zwei Mal, beide Male wegen eines Pfarrers. Was mich darauf bringt, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger viel zu wenig Menschen auf einen Kirchenberuf ansprechen mit der Aufforderung: «Du, das wäre doch etwas für dich!».
Ein Vorwurf an das Kirchenpersonal?
Nein. Ich muss mich als Gemeindeleiter ja auch selbst an der Nase nehmen. Ich kann mich nur an zwei Personen erinnern, die ich schon angesprochen habe.
Woran liegt diese Zurückhaltung?
Aus meiner Sicht sind wir, die Seelsorgerinnen und Seelsorger, unschlüssig, wie es mit der Kirche weitergeht. Ich kann in der Beratung keinem 30-Jährigen mehr unbefangen sagen, er habe für die nächsten 40 Jahre einen sicheren Job, wenn er in der Kirche arbeite. Das wäre naiv. Man wird vorsichtiger.
Zweifel also nicht am eigenen Glauben, sondern an der Organisation?
Ich will nicht schwarzmalen, aber realistisch sein. Die meisten Seelsorgenden sind ja recht zufrieden mit ihrer Tätigkeit. Trotzdem haben sie Mühe, diese anderen zu empfehlen. Zum einen, weil sie wissen, dass es Veränderungen geben wird, auch finanzieller Art. Zum anderen auch, weil man mit zunehmendem Alter mehr der Ecken und Kanten gewahr wird und nicht jemandem so unbedarft einen kirchlichen Beruf empfehlen mag.
Sie könnten auch sagen: Vertrauen wir auf Gott, es wird dann schon gehen.
Na ja, Gottvertrauen ist das eine, Blauäugigkeit das andere. Ich bin mir sicher, dass es immer eine Kirche geben wird. Sie wird nur anders aussehen, und ob sie in der dannzumaligen Form solche Berufe auf Dauer bezahlen kann, frage ich mich. Im Kanton Zürich werden beide grossen Landeskirchen zusammen nächstens unter 50-Prozent Anteil an der Bevölkerung sinken. Solche Veränderungen muss man wahrnehmen.
Was tun?
Der Rückgang allein ist ja noch nichts Schlimmes. Die Frage ist nur: Wie verändert das die kirchlichen Berufe und ist es dann tatsächlich noch sinnvoll, allein auf die Seelsorge als Beruf zu setzen. In Deutschland zum Beispiel, wo ich herkomme, arbeiten Theologinnen und Theologen noch in ganz anderen Bereichen als in der Kirche, sie sind etwa wegen ihrer Menschenkenntnis in Personalabteilungen oder in der Beratung begehrt. In der Schweiz kommt kaum ein Betrieb auf die Idee, an einer theologischen Fakultät Personal zu rekrutieren, da ist man viel mehr auf die Kirche fixiert.
Wie fliesst das in Ihre Beratung ein?
Die Leute, die zu mir kommen, haben meistens einen Erstberuf. Wir besprechen, ob sie auf diesen zurück könnten, wenn es mit der Theologie nichts wird. Oder welches zweite Standbein daneben passen könnte. Ich betone jedenfalls: Macht oder erwerbt euch nebenher etwas, das uns in der Seelsorge hilft, man notfalls aber auch ausserhalb der Kirche wertschätzt. Einen psychologischen Abschluss etwa, oder etwas in der Aus- und Weiterbildung.
Spüren Sie die schwindende kirchliche Sozialisierung der Menschen in Ihrer Beratungstätigkeit?
Ja. Früher gelangten wie gesagt viele Personen auf Anstoss ihrer Pfarrei an unsere Stelle. Heute steht die Sinnsuche im Vordergrund, man möchte etwas Soziales tun. Aber bringt häufig keine kirchliche Nähe mit.
Was sagen Sie diesen Menschen?
Ein Weihbischof warf mir einmal vor, ich wiese zu wenig auf die Christusbeziehung hin, die es für einen kirchlichen Beruf brauche. Ich antwortete, ich ginge von Berufung im Sinn des heiligen Martin aus. Dieser half dem Bettler, bevor er Christ wurde; erst in der Nacht danach erschien im Christus und sagte ihm, er sei der Bettler gewesen. Das heisst: Christusbeziehung muss nicht zwingend am Anfang einer kirchlich-sozialen Tätigkeit stehen, sondern diese Tätigkeit kann auch erst zu einer Berührung mit Christus führen. Mit anderen Worten: Es kann einem auch erst später den Ärmel reinnehmen.
Wann sind Sie erfolgreich?
Grundsätzlich: Unsere Stelle hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn die Leute Informationen zu kirchlichen Beruf erhalten.
Und weiter?
«Chance Kirchenberufe» ist kein Rekrutierungszentrum. Wir beraten Menschen, damit sie zu einer für sie sinnhaften Tätigkeit finden. Das gilt auch für solchen, die für die Ausbildung zu einem kirchlichen Beruf schon zu alt sind. Bei ihnen kann «Berufung» zum Beispiel heissen: Ich engagiere mich in der Palliativ Care oder eine Caritas-Aufgabe. Das kann man auch neben seinem Beruf machen. Ich habe viel mit Menschen zu tun, die mir vor ihrer Sehnsucht nach Sinn erzählen und voller Eifer sind, etwas Neues anzupacken. Sie wollen etwas verändern, sind hoch motiviert. Da bin ich selbst Feuer und Flamme und schaue, was möglich ist.
Woher kommen diese Menschen? Womöglich häufig aus der Finanzbranche?
Schon auch. Einmal fragte eine Bankerin, die zu mir kam, am Schluss des Gesprächs, wie viel sie denn als Seelsorgerin verdienen würde. Auf meine Antwort hin meinte sie, diese Summe sei just so hoch wie der Bonus, den sie im Vorjahr erhalten habe. Der Lohn hielt sie dann aber nicht ab, das Studium aufzunehmen, und sie ist seit zwei Jahren Pastoralassistentin. Sie wollte nicht mehr länger ihren Kindern nicht erklären können, was sie auf der Bank tue, weil diese das nicht verstünden. Sie wollte ihnen eine glückliche Mutter sein.
Kirchlich eher traditionelle Jugendliche machen in Lobpreis-Gruppen wie Adoray oder in der Weltjugendtagsbewegung mit. Suchen solche Jugendliche ebenfalls Ihre Beratung?
Nein. Diese Bewegungen machen in ihrem Kreis zwar gute Arbeit, aber sie bringen ganz selten kirchliche Mitarbeitende hervor.
«Chance Kirchenberufe» sei kein Rekrutierungszentrum, sagten Sie. Manche Pfarrei hat vielleicht eine andere Erwartung.
Das mag sein. Wir haben den Schulterschluss mit den Pfarreien immer noch nicht geschafft. Gerade einmal 30 sind Mitglied unseres Vereins. Ich werde nicht zum Predigen eingeladen oder zu einem Informationsanlass mit unserem «Chancenmobil». Wir werben mit Plakaten und mit Spots im öffentlichen Verkehr, aber kaum je hängt ein Banner an einem kirchlichen Gebäude. Die Pfarreien suchen Personal, aber selten kommen Verantwortliche auf die Idee, dass sie selber etwas dafür tun müssen. Es gibt keine organisierte Nachwuchsförderung der Pfarreien.
Erstaunt Sie das?
Nein. Zum Vergleich: In welcher Dorfarztpraxis liegt schon ein Prospekt auf, der für den Arztberuf wirbt? Dabei haben die Hausärzte ja das gleiche Nachwuchsproblem.
Das klingt ernüchtert.
Nochmals nein. Ich mache mir nichts vor. Ich bin selbst auch Pfarreileiter und sehe, wie viele Angebote mir täglich aufs Pult flattern und auf die ich nicht reagiere, weil es einfach zu viel ist. Würde ich selbst ein «Chance Kirchenberufe»-Plakat aufhängen? Ich weiss es nicht.
Sie sind ein Realist?
Ja. Ich will einfach den Menschen zu erreichen helfen, was diese in ihrem Innern spüren. Und ich sage natürlich in jedem Gespräch, mein Beruf sei der schönste, den man haben könne. Ich komme mit Menschen jeglichen Alters in Beziehung, nehme familiär teil, darf das Leben in seiner ganzen Fülle erfahren. Wer dagegen geht schon zum Arzt oder einem Anwalt, ausser wenn er/sie ein Problem hat?
Pfarrei- und Kampagnenleiter
Thomas Leist (54), stammt aus Deutschland, hat in Frankfurt Philosophie und Theologie studiert und kam 1996 als Pfarreileiter nach Uitikon in die Schweiz. Seit 2011 leitet er in einem 50-Prozent-Pensum die «Fachstelle Information Kirchliche Berufe», die seit 2013 als «Chance Kirchenberufe» auftritt. Seit Sommer 2018 teilen sich Thomas Leist und seine Frau Petra die Leitung der Pfarrei Herrliberg.