Eltern eines behinderten Kindes sein: Bereicherung und Herausforderung
Dominik Thali
Rita Affentranger hält ein Beiglein Päckchen in der Hand. In jedem steckt eine Zeichnung, denn Mirjam zeichnet viel und und packt gerne ein. Die Päckchen, die Woche für Woche entstehen, sind farbige Grüsse aus dem Alltag der 35-jährigen Tochter. Mirjam entwickle sich auf ihre Weise, umschreiben die Eltern deren Einschränkungen, und sie habe eine rege Phantasie. Mirjam versteht viel und verständigt sich mit Gebärden; sie kann gehen, ist aber zunehmend auf den Rollator und Rollstuhl angewiesen.
Die Lebensaufgabe
Warum das so ist, wissen ihre Eltern nicht. Die Frage danach trieb Rita und Philipp Affentranger, beide 64, lange um. Sie wegzulegen, kostete beide Kraft. «Aber ab diesem Zeitpunkt ging es uns besser», sagt Philipp Affentranger. «Mirjam ist Mirjam, wir orientieren uns nicht an der Norm.»
Der selbständige Möbelschreiner sieht in der Begleitung der behinderten Tochter seine «Lebensaufgabe». Rita Affentranger sagt, Mirjam habe sie «auf einen Weg geschickt». Antworten auf ihrer Sinnsuche fand die ausgebildete Handarbeitslehrerin über die Ausbildung zur Katechetin und Tätigkeit in der Kirche. «Ich weiss nicht, ob ich das ohne Mirjam gemacht hätte», sagt sie heute. Diese und ihre zweite Tochter Flurina mit Enkelkind Linus hätten zudem ihr Bewusstsein dafür geschärft, welches Geschenk das Leben sei. «Es ist wie eine Dauerweiterbildung, einfach ohne Zertifikat», fasst Rita Affentranger zusammen.
Eine Gratwanderung
Ihr Mann nickt: «Man kann ja nicht immer hadern.» Ihm habe Mirjam Türen geöffnet, er habe beispielsweise eine Stiftung für Menschen mit einer Behinderung mit aufbauen können. «Das ist bereichernd.» Aber, über alles gesehen, «nicht einfach», schiebt Rita Affentranger nach. Eltern eines behinderten Kindes zu sein, sei «oft eine Gratwanderung». Mal ist das Vertrauen stark, mal die Verzweiflung gross. Mirjam Affentranger zog mit 18 in eine Wohngruppe der SSBL Knutwil, am Wochenende lebt sie bis heute bei ihren Eltern in Reiden. Betreuung braucht es da wie dort rund um die Uhr. Mirjam lebe intensiv, nehme alles ungefiltert auf, «mit jeder Faser ihres Daseins», sagt ihre Mutter. Glücksmomente und Lachen wechseln sich ab mit «Zeiten, in denen sie uns an unsere Grenzen bringt».
«Diese Ungewissheit ist für uns als Eltern einer behinderten Tochter die schwierigste Aufgabe.»
Rita Affentranger
Rita und Philipp Affentranger räumen ein, oft mehr Zweckgemeinschaft als Paar zu sein und wie es eigentlich an Zeit zu zweit mangle. Sie schauen sich an – und schmunzeln. Rita sagt: «Da üben wir.» Philipp geht mit ihr einig und meint: «Im Miteinander funktioniert es.» Rita Affentranger gesteht ein, dass ein behindertes Kind die Entfaltung seiner Eltern tatsächlich einschränke, relativiert diese Aussage aber umgehend: «Wer alle Möglichkeiten hat, ist nicht einfach glücklicher. Wir sind zum Beispiel nach einem Ausflug ebenso zufrieden, auch wenn wir viel mehr planen müssen und unser Bewegungsradius kleiner ist.»
«Das ist auszuhalten»
Was sich hingegen kaum planen lässt, ist Mirjams Zukunft. Ein Kind ohne Behinderung wird von seinen Eltern irgendwann in die Selbständigkeit entlassen. Mirjam bleibt jedoch zeitlebens auf ihren Vater, ihre Mutter oder andere Bezugspersonen angewiesen. Ein Thema, das die Eltern manchmal belastet. «Was ist, wenn wir einmal nicht mehr da sind?», fragt Rita Affentranger. Beider Blick geht in die Weite. Dass es auf diese Frage keine Antwort gebe, müsse man aushalten, sagt Rita Affentranger. «Aber diese Ungewissheit ist für uns als Eltern einer behinderten Tochter die schwierigste Aufgabe.»