Lernen, sich einer Krise zu überlassen
Lukas Fries-Schmid
Viele unserer Gäste melden uns immer wieder eine wesentliche Erfahrung zurück: Sie trauen sich auf dem ‹Sonnenhügel›, so zu sein, wie sie sind, sagen sie. Genauer betrachtet haben viele keine andere Wahl. Sie kommen in einer akuten Krise zu uns; in einem Augenblick des Lebens also, an dem sie keine Kraft mehr haben, sich zu verstellen oder zu verstecken. An einem Punkt im Leben, an dem die ganze Wirklichkeit über sie hereinbricht. In einer Situation, in der sie den Tatsachen ihrer Lebenssituation ungeschönt ins Auge blicken müssen.
Das ist nicht leicht und ich wünsche niemandem eine solche Krise. Dennoch erfahren viele Gäste – wenigstens im Nachhinein – diesen Zustand nicht nur als Belastung und Überforderung, sondern auch als Erleichterung. Endlich ein Ort, wo ich sein darf, wie ich bin. Ein Ort, wo ‹es› sein darf, wie es ist. Ohne dass ich funktionieren muss. Ohne gute Miene zum bösen Spiel. Ohne dass ich weiterhin so zu tun brauche, als ob ich mein Leben noch im Griff hätte. Für viele ist das auch eine Erleichterung: Die Umstände so zu nehmen, wie sie sind. Ungeschönt ehrlich.
«Ohnmacht ist nicht das Ende, sondern ein Anfang.»
Lukas Fries-Schmid
Die Krise akzeptieren
Von einer zweiten Erleichterung berichten uns viele jener Gäste, die einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik erfahren haben: Auf dem ‹Sonnenhügel› wollen wir nicht in erster Linie die Umstände ändern. Das mag irritierend klingen, aber es ist in der Tat so, dass wir zuerst einmal nicht helfen. Wir versuchen nichts zu tun, was darauf abzielt, die Situation zu korrigieren. Unser erster Schritt besteht darin, dass wir die Krise zu akzeptieren versuchen. Als Gemeinschaft haben wir dazu mehr Möglichkeiten als das einzelne Individuum. In der Klinik spüren viele Gäste vom ersten Tag an den Druck der Kostengutsprache. In sechs oder acht Wochen sollten sie wiederhergestellt sein, sodass sie die Klinik verlassen können. Also muss man von Beginn weg um jeden Preis etwas tun. Zeit, um anzunehmen, was ist, bleibt da keine.
Auf dem ‹Sonnenhügel› erfahren die Gäste einen anderen Zugang. Es darf so sein, wie es ist. Nicht nur, weil es gar nicht anders geht. Sondern weil wir darauf vertrauen, dass selbst dann eine Veränderung möglich ist, wenn wir keine Kraft mehr haben, diese selbst zu gestalten. Wo wir uns nicht mehr auf unsere selbst gemachten Sicherheiten verlassen können, kommen wir dem Wesentlichen näher. Gerade da, wo wir nichts (mehr) tun können, geschieht etwas. Das ist immer wieder unsere Erfahrung.
Damit ist das Entscheidende gesagt: ‹Es geschieht›. Das bringt eine andere Dimension ins Spiel. ‹Es geschieht› ist ein theologisches Passiv. Nicht mehr wir tun, sondern Gott handelt. Von unseren Grenzen her strömt uns Gottes Gegenwart entgegen. Ohnmacht ist nicht das Ende, sondern ein Anfang. Mitten in der Krise weicht das Nichts-mehr-tun-können – notgedrungen – dem Sich-überlassen.
Ins Vertrauen investieren
Dieses Überlassen müssen wir gestalten. Das ist harte Arbeit für die Betroffenen. Eine Krise auszuhalten, um nicht zu sagen wertzuschätzen, ist kein Spaziergang. Es ist kein passives Sich-Hingeben, sondern eine aktive Investition ins Vertrauen. Unsere Gäste respektive deren Nöte lehren mich aus nächster Nähe, wie sich Gottes unbedingte Nähe nicht als Verdienst, sondern als Geschenk zeigen will. Und wie schwer es oft ist, dieses Geschenk anzunehmen.
Lukas Fries-Schmid (50), Theologe und Pastoralpsychologe, lebt mit seiner Familie seit 2009 im «Sonnenhügel – Haus der Gastfreundschaft» in Schüpfheim und begleitet dort Menschen in Auszeiten und Krisensituationen.