Schneehühner und das Leben in Fülle

Das Leben in Fülle, das Jesus im Johannesevangelium verspricht, betrifft nicht nur die Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen. Der Biologe und reformierte Kirchgemeindepräsident Christian Marti erinnert, dass sich die Kirchen zur «Bewahrung der Schöpfung» verpflichtet haben.
Das ökumenische Motto ‹Bewahrung der Schöpfung› verpflichtet die Kirchen aller Konfessionen, sich für das Leben in Fülle einzusetzen: ein Alpenschneehuhn, fotografiert von Christian Marti.

«Vier Uhr morgens am letzten Pfingstsonntag. Ich beziehe meinen Beobachtungsstandort hoch über dem Aletschgletscher und ziehe mich warm an. In der ersten Dämmerung liegt ein karger Lebensraum vor mir: In diesem Frühling ist der steile Nordhang Mitte Mai noch fast vollständig schneebedeckt. Bald singt der erste Hausrotschwanz, und nur Minuten später höre ich den knarrenden Ruf eines Alpenschneehahns. Dann wieder Stille. Eine Stunde später kann ich für kurze Zeit ein Schneehuhnpaar beobachten. Das ist nicht gerade ‹Leben in Fülle›. Hahn und Henne sind in der Mauser, haben also das weisse Winterkleid noch nicht vollständig durch das grau und goldbraun gesprenkelte Sommergefieder ersetzt. 

Wenn ich Anfang Juli wiederkomme, werde ich hier eine reiche Tier- und Pflanzenwelt antreffen: eine üppige Zwergstrauchvegetation, Dutzende von Pflanzenarten mit grossen Blüten, die mit ihren intensiven Farben die Aufmerksamkeit der bestäubenden Insekten erregen, und Murmeltiere, die sich in wenigen Wochen die Fettvorräte für die langen Wintermonate anfressen. Wenn ich Glück habe, entdecke ich eine Schneehenne, die ihre Küken führt.
 

Kirchen setzen sich für das Klima ein

Die Sorge um die Umwelt treibt auch die Kirchen um. «Kirche und Klima» ist eines der Legislaturziele des Synodalrats der katholischen Landeskirche. Eine Fachtung etwa zu dem Thema im April war gut besucht. Oder: Dank einer Leistungsvereinbarung mit der die Fachstelle «oeku – Kirchen für die Umwelt» können sich Kirchgemeinden dort günstig beraten lassen. 

Die reformierte Landeskirche erarbeitet zurzeit ein Nachhaltigkeitskonzept. Information, Beratung und Vernetzung stehen auch dort im Vordergrund. In dem Konzept geht es auch um die soziale Nachhaltigkeit.

Nicht nur reden, sondern handeln

Vor fünfzig Jahren, als unsere Gruppe hier mit den jährlichen Zählungen der Schneehühner begann, konnte ich vom erwähnten Standort aus jeweils sechs bis zehn Hähne feststellen. Sie riefen stundenlang, markierten ihr Revier durch auffällige Balzflüge und kämpften an den Reviergrenzen mit ihren Nachbarn. Weshalb hat der Bestand seither so stark abgenommen? Die Klimaerwärmung drängt sich als Erklärung auf. Weiter oben im Hang, wo meine Kolleginnen und Kollegen postiert sind, scheint sich der Schneehuhnbestand nämlich nicht verändert zu haben. Allerdings gibt es auch andere Einflussfaktoren. Als Naturwissenschaftler hüte ich mich vor zu einfachen und vorschnellen Schlussfolgerungen.

Das ökumenische Motto ‹Bewahrung der Schöpfung› verpflichtet die Kirchen aller Konfessionen, sich für das Leben in Fülle einzusetzen. Oder anders ausgedrückt: für die Erhaltung der Biodiversität. Es geht nicht bloss um die paar Alpenschneehühner auf dem Gebiet der Luzerner Landeskirchen hoch oben am Pilatus. Wir helfen den Schneehühnern im ganzen Alpenraum nicht mit Worten wie diesem Gastbeitrag oder mit Predigten, sondern mit Handeln dort, wo wir sind: Zum Beispiel mit der Überprüfung unseres Mobilitäts- und Einkaufsverhaltens, mit Massnahmen zur Verminderung des Energieverbrauchs unserer Gebäude und mit unseren Entscheiden bei Wahlen und Abstimmungen. Das wird das Alpenschneehuhn und die Welt als Ganzes noch nicht retten, aber es ist ein Beitrag zu Leben in Fülle.»
 

Christian Marti, 72, Biologe, 1986 bis 2017 bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, Synodalrat der Reformierten Landeskirche von 2017 bis 2021, Präsident der Reformierten Kirchgemeinde Sursee seit 2011

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