Menschen mit Behinderung

Wo Vertrauen eine andere Dimension hat

Baustellen mit ihren Schildern und Umleitungen sind für Laura Kirschner eine Herausforderung. Denn Laura Kirschner ist von Geburt an blind. Dass ihre Selbständigkeit deshalb Grenzen hat, aber auch, wo ihr das Herz aufgeht, erzählt die 24-jährige Studentin aus Horw im Interview.
Eine Baustelle, eine Umleitung – und plötzlich ist alles anders als gewohnt. Für sehbehinderte Menschen sind alle Änderungen vertrauter Abläufe eine grosse Herausforderung. | © 2024 Dominik Thali

Frage: Ich war lange nicht mehr in Horw, da hat sich ja einiges verändert im Quartier. Wohnst du gerne hier?
Laura Kirschner:
Ich wohne gerne hier. Aber die Baustellen rund ums Haus sind schwierig. Alleine bei Migros oder Coop einkaufen zu gehen, wird für mich dadurch unmöglich. Denn Orientierung ist eine echte Herausforderung. Mir Wege zu merken und so. Also ganz so selbständig, wie ich gerne wäre, bin ich nicht. Aber ich bin froh, wenn die Bauarbeiten hier vorbei sind. Ich wohne nämlich sehr praktisch. Meine Eltern sind nicht weit weg, ich habe die Berge, den See und die Stadt in der Nähe, den Wald. Ganz im Nirgendwo möchte ich nicht leben, ich brauche auch diese Sicherheit um mich herum, einen Arzt in Reichweite zum Beispiel. Nenn mich Oma (sie lacht), aber das hat mich die Erfahrung gelehrt.

Frage: Du bist auf sichere Wege angewiesen.
Laura Kirschner:
Oh ja, nicht nur auf Wege, auch im Haus muss alles an seinem Platz liegen. Ich muss wissen, wo die Dinge sind. Und ich möchte um Himmels Willen nicht mitten in der Stadt wohnen. Von Horw aus kann ich viel, ich pendle zweimal pro Woche nach Winterthur, wo ich noch bis diesen Sommer Mehrsprachige Kommunikation studiere. Kürzlich habe ich wieder mit Reiten begonnen, das braucht sehr viel Zeit und Vertrauen, das ich aufbauen muss. Ich fahre dafür extra nach Schüpfheim. Und joggen gehe ich dreimal die Woche. Mit einer Begleitung natürlich.

Frage: Vertrauen brauchst du in einer Welt der Sehenden ganz besonders. Gehst du auch joggen, um den Kopf frei zu bekommen?
Laura Kirschner:
Ui, es kommt sehr darauf an, mit wem ich unterwegs bin. Ich kenne blinde Menschen, die vertrauen allen. Ich nicht. Aber ich bin auf Andere angewiesen, um von A nach B zu kommen. Je nach Begleitung muss ich beim Joggen mehr mitdenken, mich anders konzentrieren. Wenn ein Guide selber unsicher ist, überträgt sich das auch auf mich. Ich habe aber Begleitungen, da kann ich die Kontrolle komplett abgeben, dann kann mich das Laufen total entspannen. Das ist bei mir aber auch sehr tagesabhängig.

«Die Baustellen rund ums Haus sind schwierig. Alleine bei Migros oder Coop einkaufen zu gehen, wird für mich dadurch unmöglich.»

Laura Kirschner

Frage: Würdest du von dir behaupten, ein «Leben in Fülle» zu leben?
Laura Kirschner: Ja, schon. Dabei kommt mir etwas in den Sinn, das nicht direkt mit meinem Studium oder mit Sport zu tun hat: Ich mochte bereits als Kind wahnsinnig gerne Hörspiele. Wir hatten ein grosses Regal voll mit Kassetten und CD‘s zuhause. Und das hat mich nie wieder losgelassen. Meine Tonträger, die erhalten mich quasi. Ja, ich sammle Hörspiele. Sie machen mein Leben lebenswert. Und ich finde es toll, dass heute immer noch Hörspielkassetten fabriziert werden. Manchmal stehe ich einfach vor meinem Regal, fasse die Kassetten an, und denke: Puh, da ist aber viel Geld hineingeflossen (sie lacht).

Frage: Geschichten, Stimmen, Emotionen, Sprache, Musik – da steckt viel drin, in so einem Hörspiel.
Laura Kirschner: Ja, für mich ist es das Gesamtpaket, das so reizvoll ist. Ein Hörspiel hat mich sogar mal davor bewahrt, mein Studium abzubrechen. In dem Fall ist es dann natürlich der Inhalt, der mich packt. Aber alleine schon das Gefühl hier (sie geht zu ihrem Recorder und macht die jeweilige Handlung zum Gesagten): Klappe auf – Kassettli rein – Klappe wieder zu – auf Play drücken. Das liebe ich. Klar könnte ich jetzt auch sagen: nach meinem Studium, da wäre dann ein Job wichtig, bei dem ich abends nachhause komme und sagen kann, dass ich glücklich bin. Ich will aber auch ein Leben neben der Arbeit, das mich froh macht. Ich erlebe viele Menschen, die haben ständig Kopfschmerzen, weil sie so viel arbeiten. Ich wünsche mir eine Arbeit, die mich erfüllt, ich möchte Geld verdienen, nicht abhängig sein. Aber diese Dinge sind lebenswert eher so auf Kopfebene. Hörspiele sind für mich Herz-lebenswert.

Lebenswert

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